Wie in einer Gemeinschaftsaktion von Ehrenamtlichen des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde, der Hochschule Hannover und des Kneipp-Bundes Patientenakten aus dem Kneippschen Kinderasyl digitalisiert wurden – und wie es nun weitergeht…
Manchmal liegt ein Schatz nicht an verborgenen Orten, manchmal ist ein Schatz nicht goldglänzend, sondern unscheinbar und doch so wertvoll. Und manchmal befindet sich ein Schatz auch wohl behütet in der Obhut von Menschen, die sich der Historie annehmen und um deren Wert wissen: So war es auch in diesem Fall. Es handelt sich um Krankenakten aus dem Kinderasyl, das Sebastian Kneipp errichten ließ und 1893 eröffnete. Bis zur Fertigstellung waren die jungen Patienten provisorisch im Haus Geromiller untergebracht und teils im Adler. Die ersten Aufzeichnungen stammen aus dem Jahr 1891. Akribisch wurden die Patientendaten erhoben, die Anamnese und teils die Behandlung sind beschrieben. In späteren Jahren, ab etwa 1900 sind sogar Fotos der Buben und Mädchen abgebildet, die sich im Kinderasyl behandeln ließen – und das zum Teil über mehrere Jahre.
Werner Büchele, dem Vorsitzenden des Förderkreises Sebastian-Kneipp-Museum war sofort klar, dass diese Schätze für die Nachwelt erhalten bleiben müssen, als er mit einer Ordensschwester die dicken Bände aus den ersten 30 Jahren des Kneippschen Kinderasyls sichtete, bevor das Haus nach über 100 Jahren für immer seine Pforten schloss. Seitdem werden die Bücher im Kneipp-Museum aufbewahrt. Sie sind mehr als eine Auflistung von Befunden und Therapien, sie sind Zeitzeugen der Lebensumstände und nicht zuletzt auch Zeugnis eines Menschen, der eine Mission hatte: Sebastian Kneipp. Ihm lagen die Kinder am Herzen. Das sagte er nicht nur, er kümmerte sich sogar persönlich um ihr Wohlergehen, wenn er die Zeit fand. Mit dem Kinderasyl schuf er eine Anlaufstelle für Kinder, teils aus schwierigen Verhältnissen und mitunter auch hoffnungslose Fälle. Für den Kneipp-Bund sind diese Originalquellen echte Schätze, deren Inhalt nicht weiter im Verborgenen bleiben sollte.
Die historischen Patentenakten sind nämlich auch von medizinhistorischer Bedeutung. Denn sie geben Einblick in eine Ära jenseits des Penicillins und des Typhusserums. Zu der Zeit wurde – auch mangels Alternativen – fast ausschließlich naturheilkundlich behandelt. So können die Aufzeichnungen aus dieser Zeit auch Aufschluss für wissenschaftliche Forschungsprojekte geben, um neue Erkenntnisse in der Kinderheilkunde zu gewinnen. Und auch für das Kneipp-Museum sind diese Schätze so etwas wie Rohdiamanten, denn zwischen den Buchdeckeln der rund 27 Bände warten über 13.000 Seiten mit Informationen. Da stellte sich die Frage, wie dieses Wissen für die Forschung und für die Besucher des Museums nutzbar gemacht werden kann. Eine Antwort darauf ergab sich bei einem Gespräch zwischen Konrad Hölzle und Prof. Thomas Baranek bei einem Symposium in Bernau bei Berlin. Der Vertretungsprofessor des Lehrstuhls für klinische Forschung an der Hochschule Hannover verknüpfte die Information um die alten Akten gleich mit den Möglichkeiten der heutigen Technik: Warum nicht digitalisieren, auswerten und in eine Datenbank übertragen?
Nur wenige Wochen später findet sich die Arbeitsgruppe „Digitalisierung“ dank der Unterstützung des Kur- und Tourismusbetriebs im ehemaligen Lesesaal im Kurhaus ein: die Studentinnen Pervin Aydogan und Nevin Özer aus Hannover stellen sich dieser Aufgabe und scannen die Dokumente gemeinsam mit Ehrenamtlichen des Bayerischen Landesvereins für Familienkunde, den Daniela Hölzle für das Projekt gewonnen hat. Sie selbst engagiert sich dort und findet schnell weitere Unterstützung: vier Vereinsmitglieder kamen für die Aktion in die Kneippstadt und brachten sechs Scanner mit. Allen voran von Sabine Scheller, die für ihr Engagement bereits mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Sie hat viel Erfahrung mit der Digitalisierung und im Lesen historischer Schriften – und nicht nur das. Als gelernte Kinderkrankenschwester bringt sie einiges an Fachwissen mit. So wird sie nicht nur Ansprechpartnerin bei technischen Fragen, sondern auch kurzerhand Mentorin der Studentinnen zum Wissen um die Kinderheilkunde und die Lebensumstände von damals.
In den Anamnesen werden manche Fakten höflich umschrieben mit Begriffen wie Imbezillität (Intelligenzminderung), andere direkt beim Namen genannt wie „untersetzt und in reichlich gutem Ernährungszustand“. Was beim Blick in die Akten auffällt, sind viele Kinder mit Anämien, aber auch Epilepsie. Für die Studentinnen ist besonders beeindruckend, dass die Kinder für die Behandlung aus ganz Europa nach Wörishofen kamen – und das bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Von Schweden bis Neapel und von Odessa bis England finden sich Einträge in den historischen Akten. Und auch die Aufenthaltsdauer mancher Kinder lässt die Ehrenamtlichen kurz innehalten: elf Jahre sind die längste Zeit, die beim Scannen auffällt. Da liest sich eine Bemerkung wie „nach 81 Tagen gekräftigt“ wie Balsam.
Und auch für Sabine Scheller gibt es neue Erkenntnisse. Denn sie findet bereits kurz nach der Jahrhundertwende Hinweise auf Vorläufer der heutigen Kuren und Rehas. Firmen wie Siemens bezahlten den Kindern ihrer Mitarbeiter den Aufenthalt (16 Mark pro Tag für sechs Wochen), um beispielsweise bei „Blutarmut“ in Wörishofen „Erholung und Abhärtung“ zu erfahren. Die gelesenen Details sind aber nur Randnotizen dieses Wochenendes. Denn das Scannen und die Qualitätskontrolle laufen Hand in Hand, so dass nach zwei Tagen alle rund 13.500 Seiten digitalisiert sind. Pervin Aydogan und Nevin Özer werden nun im Rahmen ihrer Bachelorarbeiten im Fach Medizinisches Informationsmanagement daran arbeiten. Eine Herausforderung wird zunächst die Schrift sein. In den Dokumenten finden sich unterschiedliche Handschriften wie Kurrent, Sütterlin oder (alte) deutsche Schrift. Eine Transkriptions-Software kann hier nur bedingt helfen, weil die Einlesegeschwindigkeit gering ist, die Fehleranfälligkeit dafür recht hoch. So steht für die Studentinnen nun einiges an Textarbeit an. Die Informationen aus dem Fließtext sollen zunächst medizinisch kodiert werden und in eine Datenbank übertragen werden. Dies soll Aufschluss geben, ob es eine systematische Struktur in Bezug auf die Therapien gab und kann so auch als Basis weiterer wissenschaftlicher Forschung dienen. Und nicht nur das. Auch für das Museum sollen die Inhalte aus den Büchern aufbereitet werden und den Gästen ein realistisches Bild der damaligen Zeit zeigen. Dafür hat sich der Aufwand allemal gelohnt – da sind sich alle Beteiligten dieser Gemeinschaftsaktion einig.